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Unser Alltag mit einem Kind im Rollstuhl

Ein ehrlicher Einblick in unser Familienleben mit kleinen und großen Hürden

Als ich das erste Mal „Rollstuhl“ gegoogelt habe, war ich total überfordert. Nicht nur, weil ich damals noch keine Ahnung hatte, was das konkret für unseren Alltag bedeutet, sondern weil ich tief im Innern gehofft hatte, dass es irgendwie doch nicht so weit kommt. Heute, ein paar Jahre später, leben wir ganz selbstverständlich mit dem Rolli. Nicht, weil alles easy ist – sondern weil wir gelernt haben, dass man mit jeder Hürde auch neue Wege findet. Und genau darüber habe ich mit Anna gesprochen. Sie ist Mutter von zwei Kindern, ihre Tochter Emma ist sieben Jahre alt und sitzt seit einem schweren Krankheitsverlauf im Rollstuhl. Das hier ist ihre Geschichte – mit all ihren leisen Momenten, aber auch den lauten, den mutigen und den traurigen.

Wie alles begann: Die Diagnose, die alles veränderte

„Emma war immer ein quirliges Kind“, erzählt Anna, während sie eine Tasse Tee vor sich abstellt. „Laufen, rennen, klettern – die war nicht zu bremsen.“ Bis zu ihrem vierten Geburtstag schien alles völlig normal. Dann kam ein grippaler Infekt, aus dem eine seltene Autoimmunreaktion wurde. Plötzlich ging nichts mehr: Lähmungen, Klinik, Reha. „Es war wie ein Albtraum im Wachzustand. Und ich hatte keine Ahnung, wie wir da wieder rauskommen. Es war, als hätte uns jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.“

 

Was folgte, war ein Gefühlskarussell aus Angst, Hoffnung, Zweifel und wieder Hoffnung. Die Ärzte waren vorsichtig, manche Worte wollte Anna gar nicht hören. „Man klammert sich an jedes Lächeln, an jedes kleine Zeichen von Besserung.“ Gleichzeitig musste der Alltag irgendwie weiterlaufen – mit einem Kleinkind, einem Haushalt und einem Job, der plötzlich nur noch am Rand existierte.

Vom Schock zur neuen Normalität

Die ersten Monate beschreibt Anna als „funktionieren müssen“. Kliniktermine, Hilfsmittel organisieren, Antrag hier, Widerspruch da. „Ich hab einfach gemacht. Geheult hab ich meistens abends, wenn die Kinder geschlafen haben.“ Ihr Mann Tom sei ihr Rückhalt gewesen, aber auch er habe mit seiner eigenen Überforderung gekämpft. „Wir haben uns streckenweise nur noch organisiert, aber kaum noch als Paar gesprochen. Das war hart.“

Mit der Zeit begannen sie, sich in diese neue Realität hineinzufinden. Neue Routinen entstanden: Medikamente, Übungen, Therapeuten. Der Kalender war voll – nicht mit Freizeit, sondern mit Terminen. „Wir hatten nie vorher einen so durchgetakteten Alltag. Und trotzdem haben wir gelernt, darin kleine Freiräume zu schaffen – ein gemeinsames Abendessen, ein kurzer Spaziergang, fünf Minuten Kuscheln auf dem Sofa.“

Der Rollstuhl: Freiheit statt Einschränkung

„Als der Rollstuhl kam, hatte ich gemischte Gefühle. Ich dachte: Jetzt ist es offiziell. Jetzt sehen es alle.“ Aber Emma sei begeistert gewesen. „Endlich wieder selbst bewegen, endlich raus!“ Der Rollstuhl wurde schnell Teil von allem. „Emma nennt ihn ihren Blitz. Sie liebt Geschwindigkeit.“

Sie erzählt mir, wie Emma inzwischen Tricks kann – Wheelie fahren, selbstständig Rampen nehmen, rückwärts rangieren. „Sie hat sich das alles selbst beigebracht, einfach weil sie wollte. Wir mussten eher bremsen als anschieben.“

Was viele unterschätzen: Ein Rollstuhl ist kein Symbol für Aufgeben, sondern für Selbstbestimmung. „Sie kann damit in die Schule, auf den Spielplatz, zur Oma – klar, nicht alles ist barrierefrei, aber wir schauen immer, was geht.“ Und wenn es mal nicht geht, suchen sie kreative Lösungen – Tragen, neue Wege, manchmal eben auch Plan B.

Schule, Freunde, Inklusion: Ein Mix aus Glück und Kampf

„Wir hatten Glück mit der Schule“, sagt Anna. „Die Direktorin war sofort offen, die Lehrerin hat sich reingekniet.“ Trotzdem musste viel organisiert werden: Rampe, behindertengerechtes WC, Schulbegleitung. „Und natürlich Gespräche mit den anderen Kindern.“ Anfangs gab es Unsicherheit. „Einige wussten nicht, wie sie mit Emma umgehen sollen. Aber Kinder sind da oft viel unbefangener als Erwachsene.“

Emma hat Freunde, die sie schieben, mit ihr lachen, manchmal auch streiten. „Sie ist ein ganz normales Kind. Nur mit vier Rädern mehr.“ Sie darf mitmachen, mitentscheiden – und das ist für Anna das Wichtigste: „Nicht nur daneben sitzen, sondern Teil der Gruppe sein.“

Gleichzeitig spürt sie aber auch die Grenzen der Inklusion: „Wenn wir auf einen Ausflug gehen, ist nicht jeder Waldweg machbar. Manchmal wird nicht mitgedacht, obwohl das so einfach wäre. Eine tragbare Rampe, ein Hinweis in der Einladung – Kleinigkeiten machen einen großen Unterschied.“

Geschwisterrolle: Wenn alles um ein Kind kreist

Emmas Bruder Paul ist fünf. „Ein wilder Kerl mit großem Herzen“, lacht Anna. „Aber auch er merkt natürlich, dass viel Aufmerksamkeit bei Emma liegt.“ Sie versuchen bewusst, auch Paul-Zeit einzuplanen. „Er liebt es, wenn wir nur zu zweit was machen. Eis essen, in den Wald gehen. Einfach ohne Rücksicht auf Routen und Rampen.“

Gleichzeitig sei er auch unglaublich hilfsbereit. „Neulich hat er gesagt: ‚Ich bin Emmas Motor.‘ Da musste ich weinen.“ Sie erzählen ihm offen, was mit seiner Schwester los ist – in kindgerechter Sprache, aber ehrlich. „Er fragt viel. Und manchmal fragt er auch, warum Emma nicht einfach wieder laufen kann. Das tut weh, aber es gehört dazu.“

Die Geschwisterbeziehung sei besonders intensiv. „Sie streiten wie andere auch – aber sie halten auch ganz besonders zusammen. Wenn jemand Emma blöd anstarrt, stellt sich Paul schützend vor sie.“

Alltag mit Herausforderungen: Von Bordsteinen, Blicken und Bürokratie

„Am nervigsten finde ich nicht den Rollstuhl an sich, sondern die Welt drumherum“, sagt Anna. „Ein zu hoher Bordstein kann ein Ausflugskiller sein. Und Blicke! Dieses Mitleid oder diese Neugier. Manchmal würde ich gerne ein Schild aufhängen: ‚Nein, das ist nicht traurig. Das ist unser Leben.'“

Sie erzählt von Supermarktbesuchen, bei denen fremde Menschen einfach den Rollstuhl anfassen. Oder von Spielplätzen mit nur einer einzigen Schaukel, auf die Emma nicht kann. „Man wird ständig daran erinnert, dass nicht für alle mitgedacht wird.“

Auch die Bürokratie ist eine Dauerbaustelle. „Anträge, Gutachten, Widersprüche. Es kostet Kraft, die wir eigentlich für die Kinder brauchen.“ Oft habe sie das Gefühl, ständig ihre Geschichte neu erzählen zu müssen – immer wieder die gleichen Fragen, die gleichen Hürden. „Als würde man sich beweisen müssen, dass das alles wirklich nötig ist.“

Was uns Kraft gibt: Netzwerke, Humor und kleine Fluchten

„Ich habe andere Familien kennengelernt, mit denen ich offen reden kann. Ohne Erklären, ohne Maske. Das tut gut.“ Auch Selbsthilfegruppen und Onlineforen seien eine Hilfe gewesen. „Und unser Humor! Wenn Emma ihren Bruder mit dem Rolli durch den Garten jagt, können wir gar nicht anders als lachen.“

Sie erzählen sich Witze, denken sich Rollstuhl-Superheldinnen aus, veranstalten Rennen im Garten. „Wir haben gelernt, über uns selbst zu lachen. Das hilft ungemein.“

Kleine Auszeiten sind Gold wert. „Einmal die Woche gehe ich abends eine Stunde spazieren. Nur ich. Kein Rolli, kein Mama-Modus. Das ist wie Frischluft für die Seele.“ Manchmal übernimmt auch die Oma oder eine Freundin. „Man muss Hilfe annehmen, auch wenn es schwerfällt. Niemand schafft das alles allein.“

Was wir anderen mitgeben wollen

„Habt keine Angst vor dem Rollstuhl“, sagt Anna. „Habt Respekt vor dem Kind darin. Es ist nicht sein Schicksal, sondern seine Art, die Welt zu erobern.“ Inklusion beginne im Kopf und im Herzen. „Stellt Fragen, aber seid ehrlich. Kinder merken sofort, wenn ihr etwas vorspielt.“

Und an alle betroffenen Eltern: „Ihr müsst nicht stark sein. Ihr dürft weinen, zweifeln, wütend sein. Aber ihr werdet staunen, wie viel ihr schafft. Und wie normal euer neues Leben werden kann.“

 

Sie betont, wie wichtig es ist, sich selbst nicht zu verlieren. „Ich bin nicht nur Mama von Emma. Ich bin auch Anna. Und ich darf mich zeigen mit allem, was dazugehört.“

Fazit: Kein Mitleid, sondern Mitmenschlichkeit

Familien wie Annas zeigen, dass der Alltag mit einem Kind im Rollstuhl nicht in eine Schublade passt. Er ist manchmal anstrengend, manchmal wild, oft ganz normal und immer voller Liebe. Es braucht Offenheit, Geduld und manchmal ein dickes Fell. Aber vor allem braucht es eins: Menschen, die nicht wegsehen, sondern zuhören. So wie du jetzt.

Denn wenn wir anfangen, miteinander statt übereinander zu sprechen, entsteht Verständnis. Und Verständnis ist der erste Schritt zur echten Inklusion.

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