Besondere FamilienformenLeben mit behinderten FamilienmitgliedernWarum wir nicht „trotzdem“ glücklich sind, sondern mittendrin

Warum wir nicht „trotzdem“ glücklich sind, sondern mittendrin

Glück mit Handicap? Für viele klingt das wie ein Widerspruch. Für uns ist es Alltag – und zwar mittendrin, nicht drumherum.

Wenn wir anderen von unserem Leben erzählen, kommt oft dieser eine Satz: „Toll, wie ihr das macht – und trotzdem so positiv!“ Und obwohl er meist nett gemeint ist, trifft er bei uns oft einen wunden Punkt. Dieses „trotzdem“ klingt nämlich so, als hätten wir eigentlich allen Grund unglücklich zu sein. Als wäre unser Alltag automatisch schwer, dunkel oder traurig – und wir müssten uns mit besonders viel Optimismus dagegen stemmen. Dabei ist unsere Realität vielschichtiger, ehrlicher und bunter.

Unser Leben ist nicht schwarz-weiß. Es ist bunt. Manchmal chaotisch, manchmal laut, oft herausfordernd – aber auch voller Liebe, Lachen und kleinen Glücksmomenten, die direkt unter der Oberfläche blitzen. Wir sind nicht „trotzdem“ glücklich. Wir sind mittendrin. Mitten im Leben, mitten im Alltag, mitten im Glück – wenn auch manchmal mit Umwegen, Umwegen voller Bürokratie, Therapien und schlafloser Nächte.

Das falsche Bild vom perfekten Glück

Wer sagt eigentlich, wie Glück aussehen muss? Muss es Instagram-tauglich sein, mit Latte Macchiato und Kinderzimmer im Boho-Stil? Oder reicht es vielleicht auch, wenn dein Kind dir zum ersten Mal „Mama“ sagt – nach Monaten harter Sprachtherapie? Für uns sind das die echten Glücksmomente. Und die sind nicht „trotz“ der Behinderung da – sondern genau deswegen besonders wertvoll.

 

Unser Sohn braucht mehr Unterstützung, klar. Aber er hat auch diese unglaubliche Fähigkeit, sich über die kleinsten Dinge zu freuen. Über einen Schmetterling auf dem Balkon. Über das Geräusch, das seine Becher machen, wenn er sie gegeneinander haut. Über ein Lied, das er seit Monaten liebt und jedes Mal tanzt, als wäre es das erste Mal. Dieses Glück ist ansteckend. Es zwingt dich, langsamer zu werden. Hinzusehen. Zu fühlen.

Und es bringt dich zurück zu den Wurzeln. Zu dem, was wirklich zählt. Nicht das große Ziel, nicht das perfekte Fotoalbum – sondern die wackelige, echte, manchmal klebrige Wirklichkeit. Die, in der du nachts um zwei im Schlafanzug durch die Wohnung tigerst, weil dein Kind nicht zur Ruhe kommt. Die, in der du gleichzeitig weinst und lachst, weil es manchmal einfach beides braucht.

Glück ist kein Zustand, sondern ein Moment

Früher dachte ich, Glück sei etwas, das man erreicht. Wenn alles gut läuft, wenn alle gesund sind, wenn man im Urlaub ist, wenn nichts weh tut. Heute weiß ich: Glück passiert. Ganz oft in Momenten, die man leicht übersehen könnte. Wenn man sich streitet und dann doch wieder verträgt. Wenn man zusammen im Auto singt. Wenn man den Tag überstanden hat – und abends gemeinsam auf dem Sofa liegt.

Glück ist auch, wenn du merkst: Ich bin nicht allein. Wenn du in einem Wartezimmer auf eine andere Mutter triffst, die dir wortlos ein Taschentuch reicht. Wenn der Nachbar sich beim dritten Klingeln doch erbarmt und den Aufzug frei macht. Wenn die Therapeutin deines Kindes nach Monaten zum ersten Mal sagt: „Heute war ein echter Durchbruch.“

Unser Alltag ist nicht leichter als der anderer Familien. Aber er ist intensiver. Vielleicht, weil so vieles eben nicht selbstverständlich ist. Wir freuen uns über Dinge, die andere gar nicht bemerken. Das macht uns nicht besser oder stärker – nur aufmerksamer. Und vielleicht auch ein kleines bisschen dankbarer.

Zwischen Windelbergen und Wutanfällen – und trotzdem dieses Leuchten

Natürlich gibt es Tage, da ist alles zu viel. Wenn das Hilfsmittel nicht kommt. Wenn die Schule anruft, weil unser Sohn heute wieder aus der Struktur gefallen ist. Wenn wir uns als Eltern streiten, weil keiner mehr Kraft hat. Und trotzdem – oder eben genau dann – passieren diese kleinen Wunder. Ein Blick. Ein Satz. Ein Moment.

Ich erinnere mich an einen Nachmittag, an dem ich völlig fertig war. Unser Sohn hatte einen Meltdown, das Essen brannte an, das Telefon klingelte ununterbrochen. Und dann kam meine Tochter zu mir, legte ihre Hand auf meinen Arm und sagte: „Mama, wir schaffen das.“ Ich musste lachen. Und weinen. Gleichzeitig. Weil genau das unser Leben ist. Nicht perfekt. Aber ehrlich. Und voller Herz.

Und dieses Herz schlägt weiter, auch wenn alles schief geht. Auch wenn du nachts um drei eine nasse Matratze abziehst. Auch wenn du das Gefühl hast, nie wieder in Ruhe einen Kaffee zu trinken. Und gerade in diesen Momenten leuchtet es auf – dieses Gefühl von: Ja, das hier ist unser Leben. Und es ist schön. Anders, ja. Aber schön.

Das Wort „trotzdem“ und warum wir es streichen möchten

Wenn Menschen uns sagen: „Ihr seid ja trotzdem so positiv!“, dann meinen sie es gut. Aber es verrät auch viel über die gesellschaftliche Sicht auf Familien mit behinderten Kindern. Es zeigt, dass unser Glück als Ausnahme empfunden wird. Als etwas, das eigentlich nicht sein kann – und darum besonders bemerkenswert ist.

Aber was wäre, wenn wir das Bild ändern? Wenn wir sagen: Natürlich sind wir glücklich. Nicht trotz allem – sondern mit allem. Weil unser Leben genauso lebenswert ist wie jedes andere. Weil unser Kind genauso dazugehört wie jedes andere. Weil Glück nicht nach Norm funktioniert, sondern nach Gefühl.

Wir wünschen uns, dass „trotzdem“ zu „und“ wird. Wir sind müde und glücklich. Überfordert und voller Liebe. Erschöpft und erfüllt. Es geht beides. Gleichzeitig. Und das ist keine Schwäche – das ist die volle Bandbreite des Lebens.

Glück ist nicht leise, es schreit manchmal

Ich gebe zu: Ich hab früher auch gedacht, dass das Glück leise ist. Ein stiller Moment, eine warme Tasse Tee, ein friedlicher Spaziergang. Heute weiß ich: Unser Glück macht Krach. Es schreit manchmal. Es tanzt im Wohnzimmer. Es wirft Becher vom Tisch. Es will nicht schlafen. Es liebt laut.

Unser Glück ist ein bisschen wild. Aber es ist da. Und es ist ehrlich. Und das ist vielleicht das schönste daran. Weil es nicht poliert ist. Weil es nicht auf Knopfdruck funktioniert. Weil es echt ist. Und weil wir jeden Tag neu lernen, es zu erkennen – zwischen all dem, was auch noch so los ist.

Und manchmal, da tanzen wir mit. Mitten im Chaos. Weil das Leben nicht wartet. Weil das Glück nicht leise anklopft, sondern manchmal einfach reinplatzt – mit Keksresten im Mund und einem lauten „Mamaaaa!“ auf den Lippen.

Die vielen Formen von Glück

Manchmal ist Glück einfach, wenn die Krankenkasse endlich einen Antrag bewilligt. Wenn ein Termin ausfällt und plötzlich Freizeit entsteht. Wenn unser Sohn es schafft, mit dem Löffel zu essen, ohne alles um sich herum mit Soße zu verzieren. Wenn wir mit anderen Familien reden, die „es“ auch kennen – und uns nicht alles erklären müssen.

Glück kann auch heißen: Zehn Minuten alleine im Bad. Eine Nacht ohne Unterbrechung. Eine liebevolle Geste vom Partner. Ein kleines „Danke“ vom Kind, obwohl es das Wort vorher nie benutzt hat. Diese Dinge sind nicht klein – sie sind riesig.

Wir merken: Wir sind nicht allein. Es gibt so viele, die mit uns auf dieser Reise sind. Die wissen, wie anstrengend es ist, aber auch, wie viel Liebe darin steckt. Und manchmal reicht ein Gespräch, ein Lächeln, ein „Ja, kenn ich“ – und plötzlich ist wieder Licht da.

Was wirklich zählt

Es geht nicht um das große Ganze. Nicht um ein perfektes Familienleben. Sondern um die kleinen, echten Momente. Die, die keiner sieht, aber die alles bedeuten. Die Umarmung, die du bekommst, wenn du nicht mehr kannst. Der Keks, der mit dir geteilt wird. Das Stolz-Sein über den kleinsten Fortschritt.

Es zählt, dass wir da sind. Jeden Tag neu. Mit Herz und Augenringen. Mit Nerven und Humor. Mit Geduld, die manchmal auch Pause braucht. Und mit dem Willen, weiterzumachen. Nicht, weil wir müssen. Sondern, weil wir lieben.

Wir haben aufgehört, uns mit anderen zu vergleichen. Weil unser Weg eben anders ist. Und weil das auch gut so ist. Wir haben unsere eigene Definition von Glück gefunden. Und die passt zu uns. Nicht perfekt. Aber echt.

Was wir anderen mitgeben wollen

Wenn du uns fragst, was Glück ist, dann würden wir sagen: Es ist das Gefühl, gebraucht zu werden. Geliebt zu sein. Gesehen zu werden – so wie man ist. Und das wünschen wir allen Familien, die sich manchmal fragen, ob sie noch „normal“ sind. Ihr seid nicht normal – ihr seid besonders. Und das ist gut so.

 

Lasst euch nicht einreden, dass ihr „trotzdem“ glücklich seid. Ihr seid es. Weil ihr mittendrin steckt. Weil ihr lacht, liebt, kämpft, weint – und trotzdem morgens wieder aufsteht. Weil ihr all das lebt, was andere vielleicht nicht sehen – aber was euch stark macht.

Also ja: Wir sind glücklich. Nicht trotz der Herausforderungen. Sondern genau deswegen mittendrin. Mitten im echten, wilden, unperfekten, wunderschönen Leben.

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